Laut einer aktuellen Umfrage des „Condé Nast Traveller“ wurde Österreich zum „freundlichsten Land Europas“ gekürt. Reisende berichten von herzlicher Gastfreundschaft, einem offenen Umgang und der Begeisterung der Einheimischen, ihre Heimat mit ihnen zu teilen. Doch was sagen die Menschen, die länger in Österreich leben? Gerade Expats und Ausländer:innen, die gerade hinzugezogen sind, sehen das oft anders. Das große Missverständnis, das viele übersehen: Freundlichkeit ist subjektiv und damit relativ.

Österreich wurde kürzlich von den Leser:innen des „Condé Nast Traveller“ zum freundlichsten Land Europas gewählt und verdrängte damit Irland vom Spitzenplatz. Auf dem dritten Platz landete Kroatien. Die Umfrage betont, dass neben Unterkunft und Klima besonders die herzliche Art der Österreicher:innen eine Rolle spielt. Während Reisende die Gastfreundschaft genießen, sehen Expats, die länger dort leben, das oft anders. In der jährlichen "Expat Insider"-Umfrage von Internations.org, an der 12.500 Menschen teilnahmen, belegte Österreich in der Kategorie „Lokale Freundlichkeit“ weltweit den vorletzten Platz. Nur die Einwohner Kuwaits wurden von Expats als noch unfreundlicher wahrgenommen. Dies zeigt, wie unterschiedlich Freundlichkeit wahrgenommen wird.

Freundlichkeit – bloß ein kulturelles Missverständnis?

Studien belegen, dass Umfragen über geografische oder kulturelle Stereotype irreführend sind: So besagt die sogenannte Kontakt-Hypothese, dass sich der Grad und die Art des Kontakts zwischen Gruppen (etwa Tourist:innen und Einheimische vs. Expats und Einheimische) stark auf die Wahrnehmung von Freundlichkeit und Offenheit auswirkt. Kurzfristige Begegnungen, wie sie oft bei Urlauber:innen vorkommen, führen tendenziell zu einer freundlich-offenen Haltung, da der Kontakt oberflächlich bleibt. Bei längerem Aufenthalt wie bei Expats oder digitalen Nomad:innen kommen jedoch tiefere soziale und kulturelle Differenzen zum Vorschein, was das Verhältnis beeinflusst.

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Was ist die Kontakt-Hypothese?
Die Kontakt-Hypothese wurde von dem Sozialpsychologen Gordon Allport in den 1950er-Jahren entwickelt. Sie besagt, dass Vorurteile und interpersonale Spannungen zwischen Gruppen durch vermehrten positiven Kontakt abgebaut werden können. Voraussetzung für den Abbau von Vorurteilen ist jedoch, dass der Kontakt unter bestimmten Bedingungen erfolgt, wie etwa bei gleicher sozialer Stellung, gemeinsamen Zielen und Kooperation. Der Grundgedanke ist, dass durch häufigeren und positiven Kontakt die gegenseitige Wahrnehmung verbessert und negative Stereotype reduziert werden.

Studien über kulturelle Anpassung zeigen auch, dass die Integration von Expats anfangs oft schwierig ist, da Erwartungen und Erfahrungen sich stärker widersprechen. Sie weisen auch darauf hin, dass es oft die Erwartung der Expats oder Zugezogenen ist, die mit der Realität kollidiert. Sie erwarten oft eine kontinuierliche Gastfreundschaft, so wie sie es als Tourist:in erfahren haben. Stattdessen erleben sie jedoch die Komplexität des alltäglichen sozialen Lebens in einer neuen Kultur.

Tourismus vs. Expats

Als digitaler Nomade lebe ich in dem Spannungsfeld zwischen touristischen Ambitionen und der Tatsache, dass ich immer dort, wo ich mich aufhalte, auch auf irgendeine Weise lebe. Gerade in touristischen Regionen erlebe ich oft auch ein gegenteiliges Muster: Viele werden mit der Zeit erst freundlicher und zugewandter, da die Menschen feststellen, dass es sich „lohnt“ freundlich zu der fremden Person zu sein. Sie bleibt ja.

Urlauber:innen erleben oft die „Schokoladenseite“ eines Landes, was in den Ferien auch vollkommen seine Berechtigung hat. Man bringt Umsatz und bleibt nur für kurze Zeit. Langzeitreisende und Expats hingegen bleiben längerfristig oder gar dauerhaft und müssen sich ins gesellschaftliche Leben integrieren, was häufig herausfordernder ist. Das Verständnis für kulturelle Unterschiede wächst nicht sofort – auf beiden Seiten nicht.

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Freundlichkeit ist subjektiv – und Spiegel unserer eigenen Haltung

Zur Erwartung und den damit verbundenen kulturellen Unterschieden kommt ein Aspekt dazu: Freundlichkeit ist kein feststehender Wert. Es hängt stark davon ab, wie wir selbst einem Land begegnen. Wer mit Respekt und Sensibilität für die lokale Kultur unterwegs ist, wird eher positive Erfahrungen machen. Oft liegt es an uns selbst, wie offen und respektvoll wir mit den Einheimischen umgehen, um dieselbe Offenheit zurückzubekommen. Wie man in den Wald hineinruft, und so.

Ist dein Gegenüber gerade wirklich unfreundlich? Liegt es an dir? Oder ist es vielleicht bloß die Phonetik oder der Tonfall einer dir fremden Sprache, die gerade etwas harsch in deinen Ohren klingt? In vielen Fällen sind Missverständnisse oder enttäuschte Erwartungen das Ergebnis mangelnder kultureller und sprachlicher Vorbereitung.

Es geht nichts über persönliche Erlebnisse

Perspektivwechsel: Während ich in immer wiederkehrenden Umfragen oder manchen TikTok-Videos die üblichen Stereotype über Deutschland, Österreich und andere Länder erfahre, erlebe ich im Ausland oft ein anderes Bild.

Zu meiner Überraschung stelle ich fest, dass der Ruf der Deutschen dort besser ist, als uns Umfragen glauben machen. Klar, es ist nur anekdotisch, aber vielleicht liegt es auch einfach daran, dass Umfragen definitionsgemäß in diesem Kontext nur an der Oberfläche kratzen können.

Ein weiterer Punkt, der in diesem Zusammenhang nicht zu unterschätzen ist: Reden wir von geschulter, also nicht ernst gemeinter oder echter Freundlichkeit? Könnte es nicht sein, dass der Rezeptionist oder der Barkeeper deshalb höflich ist, weil du nun mal Gast des Hotels bist und dafür bezahlst? Die wahre Freundlichkeit zeigt sich dagegen erst auf der Straße, in Familien, zu denen du eingeladen wirst, oder in der Klinik, im Supermarkt oder beim Bäcker um die Ecke.

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Freundlichkeit als Frage der Perspektive

Fazit: Freundlichkeit ist relativ und subjektiv – sei es im Tourismus oder im Alltag. Wir neigen dazu, Freundlichkeit nach unseren Erwartungen zu bewerten, dabei ist sie immer auch ein Spiegel unserer eigenen Handlungen. Österreich und andere Länder mögen von Reisenden als freundlich wahrgenommen werden, aber wer länger bleibt, sollte darauf vorbereitet sein, dass sich der erste Eindruck verändern kann. Ein respektvoller und offener Umgang erleichtert dabei die Integration – egal, ob als Tourist:in oder als Langzeitreisender.