Reisen ist überbewertet und bringt nicht die so oft versprochene persönliche oder kulturelle Bereicherung. Stattdessen sollen wir das Zuhausesein stärker wertschätzen und weniger verreisen. Diese provokante These vertritt die Autorin Agnes Callard in dem kürzlich erschienenen Artikel in der taz. Ein Grund, sich mit ihren Thesen einmal auseinanderzusetzen. Denn so viel steht fest: Mehr Differenzierung ist bei dem Thema durchaus angebracht.
Ist Reisen wirklich so überbewertet? Ich denke nicht. Vielmehr ist es eine Frage der Perspektive. Callard argumentiert in dem Beitrag, dass es mehr um Selbsttäuschung als um echte persönliche Bereicherung geht. Sie kritisiert, dass viele Menschen Reisen als Statussymbol betrachten und damit prahlen, wohin sie gereist sind. Sie zitiert Kritiker:innen wie den Philosophen Emerson und den Autoren Pessoa, die Reisen als oberflächliche Aktivität beschreiben, die keinen tiefen Eindruck hinterlässt.
Dabei stellt sie fest, dass Reisen oft mehr Veränderungen in den besuchten Orten verursacht, während die Reisenden selbst unverändert bleiben. Sie betont, dass wirkliche Erlebnisse und Verbindungen schwer zu erreichen sind, wenn man nur kurz an einem Ort verweilt. Der Artikel hinterfragt auch die gängigen Vorstellungen, dass Reisen den Horizont erweitert, und stellt fest, dass viele Tourist:innen nur die bekannten Sehenswürdigkeiten abhaken, ohne sich wirklich auf die Kultur einzulassen.
Die Bedeutung des Reisens
Vielleicht überrascht es dich, aber ein paar ihrer Argumente kann ich tatsächlich nachvollziehen. Doch was ich mit Differenzierung meine ist, dass es verschiedene Touristentypen gibt. Natürlich gibt es auch jene, die Reisen als Statussymbol sehen.
Für mich ist aber klar, dass das Reisen mehr ist als nur das Besichtigen von Sehenswürdigkeiten. Es ist sehr wohl eine Gelegenheit zur persönlichen Entwicklung und zum Wachstum. Wer reist, wird mit neuen Situationen, Kulturen und Menschen konfrontiert. Diese Erlebnisse fördern nicht nur die Selbstständigkeit, sondern auch die Fähigkeit, sich in einer globalisierten Welt zurechtzufinden. Im übrigen auch für die Einheimischen, die vielleicht nicht so oft reisen, so aber in Kontakt mit anderen Kulturen kommen. Die Herausforderungen und Überraschungen, die auf Reisen warten, tragen dazu bei, dass wir als Individuen reifen und uns weiterentwickeln.
Sehenswürdigkeiten zu besichtigen gehört natürlich zum Tourismus dazu und das wird sich auch nicht ändern, wenngleich ich schon immer eher ein Freund davon war, das Leben einer Stadt einzuatmen, statt die wichtigsten Touristenattraktionen abzuhaken.
Reisen als persönliche Horizonterweiterung
Reisen erweitert den Horizont und ermöglicht uns, neue Dinge zu lernen und zu erleben. Es bietet eine unschätzbare Bildungserfahrung, die in keinem Klassenzimmer zu finden ist, geschweige denn in einem Buch. Durch das Eintauchen in andere Kulturen vor Ort lernen wir, die Welt mit anderen Augen zu sehen und Vorurteile abzubauen. Oder wie Mark Twain es einst sagte: "Reisen ist tödlich für Vorurteile, Bigotterie und Engstirnigkeit."
Neue Freundschaften und Netzwerke, die auf Reisen entstehen, bereichern unser Leben und eröffnen oft neue Möglichkeiten – und zwar in beide Richtungen, für die Reisenden und für die Einheimischen. Die Geschichten und Erinnerungen, die wir sammeln, prägen uns und bleiben ein Leben lang erhalten.
Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen. - Johann Wolfgang von Goethe
Klar ist aber auch, dass es natürlich das andere Verreisen gibt. Nicht selten möchte man wirklich einfach nur zwei Wochen lang vom anstrengenden Job eine Pause haben und irgendwo am Pool oder am Meer herumliegen. Auch das hat seine Berechtigung, wenn es dem persönlichen Ausgleich hilft – und ein solcher Aufenthalt nicht zulasten der einheimischen Bevölkerung geht.
Umweltbewusstes Reisen
Richtig umgesetzt und vorgelebt, kann Reisen auch etwas Gutes in der Welt bewirken und Umwelt- und Nachhaltigkeitsbestrebungen in den Ländern und Kommunen vorantreiben – wenn der politische Wille da ist.
Für jedes Individuum geht es darum, Verantwortung zu übernehmen und bewusst Entscheidungen zu treffen, die die Umwelt schonen. Beispiele für umweltbewusstes Reisen ist statt viele kleine Reisen eine längere zu machen, um den CO₂-Abdruck zu senken, die Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln vor Ort, das Vermeiden von Einwegplastik und die Unterstützung lokaler Unternehmen. Indem wir uns für nachhaltige Maßnahmen auf Reisen entscheiden, können wir dazu beitragen, die negativen Auswirkungen des Tourismus zu minimieren und die Welt für zukünftige Generationen zu erhalten.
Fazit: Reisen kann nicht hoch genug bewertet werden
Reisen ist keineswegs überbewertet; vielmehr stellt es eine sinnvolle, ja wertvolle und wichtige Erfahrung dar, die unser Leben auf vielfältige Weise bereichert. Durch das Eintauchen in neue Kulturen und das Kennenlernen unterschiedlicher Lebensweisen erweitern wir unser Verständnis der Welt und fördern unsere Toleranz gegenüber anderen Perspektiven – natürlich nur, wenn wir es zulassen und nicht als Massentourist:innen in der Welt unterwegs sind.
Denn gerade in einer Zeit voller Vorurteile und Missverständnisse ist häufigeres Reisen und intensiverer kultureller Austausch mehr als angebracht.
Die Herausforderungen, die uns auf Reisen begegnen, sei es durch Sprachbarrieren oder unerwartete Situationen, fördern unsere Problemlösungsfähigkeiten und stärken unser Selbstvertrauen. Darüber hinaus ermöglicht uns das Reisen, persönliche Grenzen zu überwinden und uns selbst besser kennenzulernen.
Fakt ist aber auch, man sollte das Reisen nicht als Vorwand nehmen, ein weiserer oder gar besserer Mensch sein zu wollen. Es muss auch nicht die Fern- oder Weltreise sein, um neue Kulturen kennenzulernen und auf andere Gedanken zu kommen.
Oder um noch einmal Goethe zu zitieren:
Um zu begreifen, daß der Himmel überall blau ist, braucht man nicht um die Welt zu reisen. – Johann Wolfgang von Goethe